Gisella und der Tod

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Tod ist auch nur ein Mensch

Der Tod interessiert mich. Das erste Mal habe ich ihn mit sechs Jahren gesehen. Mein Opa war gestorben.

Zu der Zeit, Mitte der 1960er Jahre, gab es in meinem Heimatort in Westfalen am Friedhof eine sogenannte Leichenhalle. Dort wurden die Toten aufgebahrt. Durch eine Glasscheibe konnte man sie betrachten und Abschied nehmen.

Meine Großmutter und meine Mutter wollten den Opa nochmal sehen und nahmen mich mit. Ich habe keine Ahnung, ob sie das bewusst gemacht haben oder einfach nicht darüber nachdachten. Angst hatte ich jedenfalls keine. Ich wusste, was Tod bedeutet und ich wollte unbedingt wissen, wie das aussieht, wenn jemand gestorben ist.

In dem Raum waren rechts und links große Glasscheiben mit Vorhängen. In der Mitte gab es einen Gang. Ein Vorhang wurde aufgezogen. Und da lag der Opa. Ich war gerade so groß, dass ich alles sehen konnte, ohne mich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen.

Statt wie sonst mit einer Zigarre auf seinem Stuhl unterm Küchenfenster, um seinen Kopf der Qualm, lag er jetzt reglos da. Ich erinnere mich heute noch daran, wie anders er aussah. Sein Gesicht war weiß-gelblich und irgendwie eingesunken. Seine Fingernägel waren ein bisschen blau. Ich habe ihn mir wirklich genau angesehen. Ich wusste, dass er seinen Körper verlassen hatte. Seitdem habe ich keine Angst vor dem Tod. Wohl aber Respekt!

Der Tod eröffnet neue Perspektiven

Das hört sich für dich vielleicht merkwürdig an. Aber ich meine das wirklich so. Der Tod ändert alles und stellt ganze innere Welten auf den Kopf.

Die Menschen, die zurückbleiben, müssen alles ganz neu ordnen und eine neue Sicht auf die Dinge entwickeln. Eine sehr schwere Aufgabe. Manchmal zerstört ein Tod für lange Zeit das Gefüge, manchmal helfen neue Perspektiven in ein verändertes Leben.

Ich versuche zu ergründen, warum mich der Sensenmann (Gibt es vielleicht auch eine Sensenfrau?) so interessiert. Es ist sicher kein morbides Interesse am Tod. So wie bei manchen Hipstern, die sich auf alle möglichen Körperteile Totenköpfe tätowieren lassen. Es ist auch kein fatalistisches „Am Ende erwischt er uns doch alle, ist doch alles egal…“

Vielleicht sind es die Übergänge. Die sind immer interessanter als der Stillstand: Frühling, Herbst, aber auch Umzüge oder Jobwechsel.

Aber nichts erschüttert so sehr wie das Ende eines Lebens – oder der Beginn! Ich habe beides erlebt und finde sehr viel Ähnlichkeiten: Als mein Patenkind Katharina geboren wurde, war ich Ende 20. Meine wundervolle Freundin und ihr Mann ließen mich bei der Hausgeburt dabei sein. Sie baten mich, Fotos zu machen. Uiii, das war nicht leicht: Mit zitternden und schweißnassen Händen gute Perspektiven zu finden. Aber so kam es, dass ich die Erste bin, die dieses Mädchen auf der Welt gesehen hat. Noch bevor der ganz Kopf draußen war. Ich wusste: Gleich wird sie geboren.

Das Gefühl ist schwer zu beschreiben.

Wirklich schwer.

Ein einzigartiger, unglaublich wichtiger Moment.

Ehrfurcht, Staunen, Freude.

Beim Sterben ist es genauso.

Mein Vater starb 2009 im Alter von 82 Jahren. Er war ein sehr bescheidener Mann und wollte sicher niemandem mit seiner Krankheit Krebs und seiner Pflege zur Last fallen. Er hat auch nie über den Tod gesprochen. Aber er wusste – davon bin ich überzeugt – dass ich bei ihm sein würde. Weil mir der Tod bei allem Respekt keine Angst macht. Obwohl ich große Angst hatte… Vor seinem Leiden, davor dass ich ihm nicht helfen kann, dass ich vielleicht doch nicht bei ihm sein könnte.

Aber ich war da, weil wir alle wussten, wann es soweit ist. Man spürt es irgendwie. Ich erspare dir jetzt die ganze Geschichte. Denn es kann eben dauern, bis wirklich der letzte Atemzug getan wird.

Es war in der Nacht. Die Schwestern im Krankenhaus hatten mir ein Bett ins Zimmer geschoben. Dafür war und bin ich sehr dankbar! Ich war gerade dabei, meinen Schlafanzug anzuziehen, da bemerkte ich eine Veränderung in seinem Atem, irgendwie unregelmäßig.

Ich hielt seine Hand, wie schon die ganze Zeit zuvor. Ich streichelte sein Gesicht und versicherte ihm, dass er gehen könne, dass alles gut ist. Noch ein paar tiefe Atemzüge, mir schienen sie entspannt. Dann war er ruhig. Plötzlich kriegte ich Panik, dass er vielleicht doch etwas benötigen könnte und klingelte nach der Schwester. Sie sah ihn, fühlte den Puls und bestätigte, dass er gegangen war. Ich hätte meinem Instinkt vertrauen sollen, aber das war schon eine außergewöhnliche Situation für mich. Ich küsste also seine Stirn: „Schlaf gut, Papa.“

Ich war zittrig und erschüttert, aber das Gefühl war wirklich ähnlich wie bei Katharinas Geburt: Ehrfurcht, war Zeugin eines Geheimnisses.

Ich möchte mehr mit dem Tod zu tun haben

Meine Zeiten als Pressefrau sind offenbar vorbei. Naja, ich werde auch älter. Aber das hat nichts mit der zunehmenden Nähe zum Tod zu tun. Weil ich keine 20 mehr bin, fühle ich mich bereit für dieses Thema. Stark genug, um anderen Menschen zur Seite zu stehen.

Also habe ich gerade eine Ausbildung zur Sterbe- und Trauerbegleiterin gemacht. Schon vor einigen Jahren habe ich ehrenamtlich als Hospizhelferin gearbeitet. Darum weiß ich, dass ich da keine Berührungsänste habe.

Und bald werde ich eine ausgebildete Trauerrednerin sein. Das heißt, ich halte die Gedenkrede bei einer Beerdigung und helfe mit, den Abschied zu gestalten. Das ist für die vielen Menschen, die sich keiner Kirche mehr angehörig fühlen, ein sehr wertvoller Dienst. Das läuft genau so wie mit einem Pfarrer oder Pastor.

Trauerredner:innen gehen zu den Angehörigen und sprechen mit ihnen. Wie war der Mensch, der gestorben ist? Hat er oder sie gerne getanzt? Gab es eine besondere Eigenschaft oder ein Hobby? Damit soll das Leben geehrt und gefeiert werden, das nun vorbei ist.

Der Tod ist nicht schuld!

Er ist nicht die Ursache, nur die Folge einer Krankheit, des Alters oder eines Unfalls. Darum bin ich sehr dafür, ihn nicht zu verdammen. In einer Traueranzeige habe ich kürzlich folgendes gelesen:

Der Tod kann auch freundlich kommen

Zu Menschen, die alt sind,

deren Hand nicht mehr festhalten will,

deren Augen müde wurden,

deren Stimme nur noch sagt:

„Es ist genug, das Leben war schön.

Ich werde berichten, wie es weitergeht. Ob ich es schaffe, diese Verantwortung zu übernehmen. Und ob ich neue Erkenntnisse erfahre. Mal schauen, was passiert, wenn ich mehr Tod in den Alltag lasse

Bitte schreib mir mal, wie du darüber denkst! Findest du das interessant oder beängstigend? Ich würde mich wirklich über deine Gedanken freuen!

Hier noch ein paar Buchtipps – keine Sorge, sind nicht gruselig oder sonstwie schlimm

 *Terry Pratchett — Gevatter Tod  Ein wunderbarer Fantasyroman vom Altmeister

Gian Domenico Borasio – Über das Sterben   Das ist ein Buch, das ich unbedingt empfehle! Der Autor, Neurologe und Palliativmediziner beschreibt auf sehr klare und verständliche Weise die Vorgänge beim Sterben. Er erklärt, worauf zu achten ist, wenn jemand im Sterben liegt und was man tun kann, um diese Zeit so gut wie möglich zu machen. Und vieles mehr – ein tolles Buch!

Christoph Kuckelkorn – Der Tod ist Dein letzter großer Termin. Ein Bestatter erzählt vom Leben  Christoph Kuckelkorn ist Sproß einer alteingesessenen Kölner Familie. Schon sein Urgroßvater hat die Menschen hier aus der Region unter die Erde gebracht. Ein wirklich interessantes Buch mit lustigen und traurigen Erlebnissen. Lohnt sich auch für Nicht-Kölner:innen!

Anke Gerstein – Sterben wie ein Profi   Das Buch habe ich noch nicht gelesen, aber es wurde mir von meiner Dozentin empfohlen. Der Titel ist – naja, wie Titel eben so sind. Aber der Inhalt hört sich interessant an und ich gehe gleich los und hole es mir.

 

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6 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Ich habe großen Respekt vor dem was du vorhast und könnte es selbst niemals. Respekt! ❤️
    Die letzten Minuten von Opa kannte ich noch gar nicht und selbst sie machen mir eine Gänsehaut obwohl es schon so lange her ist 😢
    Ich bin mir sicher die neue Herausforderung ist genau das Richtige für dich und du wirst das klasse machen! 😘

    Antworten
  • Es ist nichts ekelhafter, als diese Furcht vor dem Tode.

    Heinrich von Kleist

    (1777 – 1811), Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist, deutscher Dramatiker, Novellist, Bühnenschriftsteller und Erzähler

    Antworten
  • Hallo Gisella, hast Du sehr schön geschrieben, ich weiß aus eigener Erfahrung das es bei der Geburt und dem Tod um ganz viel Gefühl geht ….. dieses starke Gefühl hat man so sonst nicht 🙏

    Antworten

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